Liebe Nachtmenschen und Langschläfer:innen
Pünktlich zur schauerlichen Zeit rund um Allerheiligen und Halloween, erlaubt meine Konzertagenda eine intensive Beschäftigung mit diesen Zwischenwelten, in denen die Schatten vorherrschen und die Intuition über die Gewissheit siegt. Die langen Nächte und sinkenden Temperaturen mögen so manche Künstler zur Erschaffung ihrer Werke bewogen haben, dann, wenn Körper und Geist den Weg von Aussen nach Innen suchen und das Leben in Gesellschaft von einsamen Stunden abgelöst wird. Hier öffnen sich die Fragen und Gedanken rund um das „Sein oder nicht Sein“ und man setzt sich mit der Endlichkeit des menschlichen Lebens auseinander oder an einen runden Tisch.
Glücklicherweise darf ich mich in bester Gesellschaft und rein künstlerisch auf diese Reise begeben und mich, wie die Kinder auf spielerische Art und Weise ihre Halloweenstreifzüge angehen, dem Zusammenspiel von „hier und jetzt“ und „hüben und drüben“ widmen. Gerne möchte ich Euch einladen, mit uns zu reisen!
Am kommenden Freitag den 1.November darf um 19:30 Uhr im Klotener Hegnerhof eine Produktion der Gravity9 Company mit dem Titel „Die Winterreise und der Rabe“ erneut erklingen. Es ist dies ein halbszenischer Konzertabend, in dem Schuberts „Winterreise“ mit Schumanns „Dichterliebe“ verschmilzt und der „Raben“ von Edgar Allan Poe der Musik einen schwarzen Rahmen verleiht. Die Produktion, die erstmals im Januar 2022 in Zürich zur Aufführung kam, setzt sich intensiv mit ihrem Inhalt auseinander, und versetzt die Zuhörenden in eine stets leicht bleibende meditative Stimmung. Musikalische Grenzen verwischen, Schatten und Licht lösen einander ab oder bestehen nebeneinender. Mit dabei das etablierte Team von der Gravity9 Company (Katharina Heissenhuber, Marina Vasilyeva, Andres Esteban, Hannes Muik und ich) mit Stimmen, Klavier und Tuchakrobatik. Infos unter: https://hegnerhof.ch/
Für die nächste Woche (9.11./10.11.) weise ich auf einen nächsten Höhepunkt in meinem bisherigen künstlerischen Schaffen hin: Mit dem Kammerorchester Bülach, unter der Leitung von Anne-Cécile Gross, gebe ich mein Debüt mit den „Nuits d’été“ von Héctor Berlioz – eines seiner bekanntesten Werke und Pionier unter den Orchesterliedern. Es ist ein grosses Privileg für mich, mich mit diesen sinnlichen Melodien im Zusammenspiel mit einem Orchester beschäftigen zu dürfen. Ihr unendliches Farbspektrum und die rhythmischen Spielereien fordern eine eintauchende Auseinandersetzung ein und lassen so die Faszination stetig steigern.
Zum Stück:
Die „Nuits d’été“ sind eine Sammlung von sechs Liedern, deren Texte dem Gedichtband „ La Comédie de la mort“ von Théophil Gautier entnommen sind und sich allesamt mit dem Thema der Liebe beschäftigen. Es ist kein Zyklus im eigentlichen Sinne, dennoch kann man in der Reihenfolge der Lieder eine Geschichte miterleben: Vom ersten Stelldichein in der „Villanelle“ geht es über eine unglaubliche Nacht aus der Sicht einer Rose („Le spectre de la Rose“) zum Tod der Geliebten („Sur les Lagunes“). Es folgt die Sehnsucht und Verzweiflung nach der Verflossenen in der „Absence“, wonach die Liebe endgültig in „Au Cimitère“ begraben wird und im Spuk des nächtlichen Friedhofes Realität und Schein verwischen. Und endlich ist man bereit für eine neue Liebe: „L’île inconnue“ lädt eine junge Schöne wieder auf die Reise ein – ihren Wunsch nach der ewig treuen Liebe kann nicht erfüllt werden, da sie nicht existiert.
Die Lieder wurden in einer Zeit geschrieben, in der Berlioz sich von seiner ersten Ehefrau scheiden liess und eine neue Liaison mit seiner späteren zweiten Ehefrau begann. Allerdings ist über den Entstehungsprozess seitens des Komponisten nichts bekannt – die Gerüchteküche brodelt also heiss wenn es darum geht, die Auswahl und Reihenfolge der Stücke zu rechtfertigen. Aber seien wir ehrlich: können wir nicht alle zumindest das eine oder andere Gefühl aus eigener Erfahrung bestätigen?
So allgemein gültig ihr Inhalt immer noch ist, so spezifisch für ihre Zeit sind die Texte von Gautier. Mit ihren Geister- und Spukerscheinungen, Melancholie, Todessehnsucht und Nachtszenen sind sie mit Elementen der Schwarzen Romantik versehen und inspirieren so das Kammerorchester Bülach zu einer „Spooky Night“, deren ausgefallenes und selten gespieltes Programm sich den passenden Zeitpunkt wie von selbst gesucht hat.
https://kammerorchester-buelach.ch/